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(c) Familie Naumann

Die Geschichte des Rennsteigs

Der Rennsteig ist ein jahrhundertealter Grenzweg, der über den ganzen Höhenkamm des Thüringer Waldes bis zum nördlichen Frankenwald führt. Den Verbindungsweg zwischen Süd- und Norddeutschland haben Kelten, Thüringer und Franken zu Kriegszeiten ebenso genutzt wie friedliche Hirten, Kaufleute, Holzschnitzer und Puppenmacher aus der Gegend. Martin Luther überquerte den Rennsteig, um in Thüringen zu predigen, Napoleonische Truppen zogen darüber zur kriegsentscheidenden Schlacht von Jena und Auerstedt, und Ludwig Bechstein wanderte dort, um die Sagen aufzuschreiben, die sich um diesen mystischen Weg ranken.

Nach dem 2. Weltkrieg wurde der Rennsteig, der bei Eisenach beginnt und dessen Hauptteil auf dem Gebiet der ehemaligen DDR liegt, mehrmals durch die deutsch-deutsche Grenze zerschnitten und nur noch bis Ernstthal zugänglich gemacht. 1951 erklang zum ersten Mal das Rennsteiglied von Herbert Roth, das zu einem der beliebtesten Schlager der DDR wurde. 1961 fand der erste Rennsteiglauf statt, der sich zu einem Volkslauf mit Massencharakter entwickelte. Nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze wurden 1990 auch die Grenzanlagen beseitigt, die den Rennsteig durchtrennten. Er ist heute wieder in seiner vollen Länge bis Blankenstein begehbar und zählt zu den beliebtesten Wanderwegen Deutschlands.

Übersichtskarte des Rennsteigs,Tourismusverband Thüringen 

Deutsch-deutsche Geschichte: berührend und nahbar erzählt

1977: Das Zuhause der vierzehnjährigen Christine ist das

ehemals mondäne Hotel Waldeshöh am Rennsteig im Thüringer Wald. Seit der Teilung Deutschlands liegt es hinter Stacheldraht in der Sperrzone direkt an der Grenze. Schon lange ndet kein Wanderer mehr den Weg dorthin. Ohne Passierschein darf nie- mand das Waldstück betreten, irgendwann fahren weder Postauto noch Krankenwagen mehr dort hinauf. Fast scheint es, als habe die DDR das Hotel und seine Bewohner vergessen.

 

2017: Die junge Milla findet abseits der Wanderwege im Thüringer Wald einen überwucherten Keller und stößt auf die Geschichte des Hotels Waldeshöh. Dieser besondere Ort lässt sie nicht los, sie spürt Christine auf, um mehr zu erfahren. Die Begegnung verändert beide Frauen: Während die eine lernt, Erinnerungen anzunehmen, findet die andere Trost im Loslassen.

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Kati Naumann Interview Was uns erinnern lässt HarperCollins
Kati Naumann

Kati Naumann Interview Was uns erinnern lässt HarperCollins

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Ein Stück vergessenes Land mitten im Thüringer Wald und zwei Frauen,
die wissen, wie sich Einsamkeit anfühlt

Schwarz-Weiß-Bilder (c) Familie Naumann

7 Fragen an Kati Naumann

kati naumann mit schwester und grossvate

"Was uns erinnern lässt" spielt am Rennsteig in Thüringen. Haben Sie zu dieser Gegend einen persönlichen Bezug?

 

Der Thüringer Wald ist die verwunschene  Welt meiner Kindheit. Meine Familie stammt aus der Gegend und war dort fest verwurzelt, meine Großeltern lebten in Sonneberg, an der deutsch-deutschen Grenze. Der Wald hat mich geprägt, das sind meine frühesten Erinnerungen:  Ich werde in einem Leiterwagen durch den Wald gezogen, das Licht flimmert durch die Zweige, ein Eichelhäher ruft, es raschelt im Gebüsch und man weiß nicht, ob gleich ein Fuchs oder eine gute Fee hervorspringt. Meine Schwester und ich haben immer die Sommerzeit dort verbracht. Wir waren jeden Tag mit unseren Großeltern im Wald, der so tief und undurchdringlich war, mit seinen mächtigen Bäumen und dem weichen Moos, und der so dicht an der Grenze lag, dass wir genau wussten, bestimmte Wege waren verboten. 

 

Wie war der Rennsteig in Ihrer Erinnerung? Wie haben Sie dies als Kind wahrgenommen?

 

Mit dem Rennsteig verbinde ich vor allem drei Dinge: Den Wanderweg auf dem Höhenkamm des Thüringer Waldes, das Rennsteiglied und den Rennsteiglauf.

Bis zur Wende wusste ich überhaupt nicht, dass der Rennsteig eigentlich viel länger ist. Dass er eben nicht in Ernstthal endet, sondern mehrmals die bayrische Grenze überquert und bis Blankenstein reicht.  Ich habe noch alte Wanderkarten, die aus der Zeit meiner Kindheit stammen. Bei der Recherche wollte ich nachsehen, wie der Rennsteig damals eingezeichnet war. Aber die Karten waren einfach abgeschnitten worden, als hätte die Welt kurz vor der Grenze der DDR aufgehört. 

Das Rennsteiglied war einer der größten Hits der DDR und wirklich jeder Ostdeutsche kennt es. Auch ich, obwohl ich es als Jugendliche nicht besonders gemocht habe. Ich war für Gitarren und gegen Akkordeons. Und trotzdem kann ich es noch heute mitsingen, am Rennsteiglied führte einfach kein Weg vorbei. 

Und dann gab es noch den jährlichen Rennsteiglauf, ein großes Massenspektakel mit bis zu 10.000 Teilnehmern, über das in den Zeitungen und im Fernsehen berichtet wurde und das auch ich alljährlich verfolgt habe.

 

Was hat Sie zu dieser Geschichte inspiriert? Gab es ein historisches Vorbild für die Familie Dressel und ihr Schicksal?

 

Meine Großeltern wohnten in Südthüringen im Sperrgebiet. Wir sind oft über die Wehd gewandert und von dort hat man einen wunderbaren Blick nach Neustadt bei Coburg in Bayern.  Ich kann mich noch genau an dieses merkwürdige Gefühl erinnern, das dieser Blick in den Westen jedes Mal bei mir ausgelöst hat. Als Kind fand ich es völlig normal, wenn die Besuche bei den Großeltern beantragt werden mussten, dass wir ohne den Passierschein nicht zu ihnen durften, dass wir uns als allererstes, wenn wir  dort ankamen, bei der Deutschen Volkspolizei melden mussten und dass wir auch im Wald immer wieder angehalten und kontrolliert wurden. Meine Mutter hatte eine enge Freundin, die in der 500-Meter-Sperrzone lebte, in der die Menschen unvergleichlich stärker überwacht und  reglementiert wurden. Durch sie wusste ich, dass es neben dem Sperrgebiet noch diese nur 500 Meter schmale Zone zwischen den zwei Zäunen gab. Ich wusste, dass dort Menschen wohnten und versuchten, ein normales Leben zu führen. Von den Zwangsumsiedlungen wusste ich damals noch nichts. Den Betroffenen war es unter strengster Strafe verboten darüber zu sprechen. Die Geschichte der Familie Dressel ist fiktiv, aber ihr Schicksal teilen die unzähligen Familien, die in der DDR zwangsumgesiedelt wurden. 

Die Themen Thüringer Wald und Sperrgebiet  waren immer in meinem Bewusstsein und haben mich nie richtig losgelassen. Einerseits habe ich mich danach gesehnt, etwas über meine alte Heimat zu schreiben, andererseits habe ich mich davor gefürchtet, glückliche Erinnerungen an eine Zeit, die unwiederbringlich vorbei ist, allzu lebendig werden zu lassen. Als ich mit dem Roman begonnen habe, war alles wieder da und ich hatte plötzlich so schlimmes Heimweh, dass es kaum auszuhalten war. Erinnern ist manchmal viel schwerer als vergessen, aber gleichzeitig eben auch sehr tröstlich. Das, was uns zu dem gemacht hat, was wir heute sind, kann uns niemand mehr wegnehmen.

 

Wo fanden Sie Anregungen und geschichtlich verbriefte Informationen, die Sie in das Buch einbauen konnten?

 

Der Roman spielt in zwei Zeitebenen und umfasst im historischen Teil die Spanne von 1945 bis 1977. Als ich mit der Recherche begonnen habe, musste ich schnell feststellen, dass meine eigenen Erinnerungen nicht sehr verlässlich sind und ich viele Dinge vergessen habe oder nicht mehr zeitlich einordnen konnte. Also habe ich mir mit Hilfe von Fachbüchern zunächst eine solide Faktenbasis geschaffen. Ich bin sehr dankbar für die Arbeit unserer Archive, denn dort habe ich die für die jeweiligen Jahre geltenden Polizeiverordnungen zur Demarkationslinie, aber auch Briefe des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Borkenkäferbekämpfung in Thüringen oder Berichte an das Ministerium für Staatssicherheit  über die Aktionen zu Zwangsaussiedlungen gefunden. Um den Wohnort der Familie Dressel festlegen zu können, benutzte ich alte Landkarten und eine Karte von den ehemaligen Sperrgebieten. Die genaue Lage habe ich mir dann am Rennsteig erwandert. Für  die Schreibzeit hatte ich ein kleines Quartier am Rennsteig genommen. Das war nicht nur für die Inspiration wichtig, sondern auch für die vielen Gespräche mit den Zeitzeugen vor Ort. Diese Berichte waren für mich von unschätzbarem Wert, weil ich durch sie etwas erfahren habe, was in keinem Buch und in keiner Akte steht. Nämlich wie sich die Menschen gefühlt haben, die in der Sperrzone lebten, wie sie das Trauma der Zwangsaussiedlung und die anschließende Stigmatisierung empfunden haben und wie es ihnen heute mit diesen Erinnerungen geht. Außerdem bin ich mit einem Regionalhistoriker  in Kontakt getreten, der mir viele wichtige Informationen geliefert hat. 

 

Welche Begegnungen hatten Sie bei Ihren Recherchen vor Ort? Ist die Erinnerung an diese Zeit bei den Menschen, die in dieser Gegend leben, noch sehr präsent?

 

Ich habe mit Menschen gesprochen, die zwangsausgesiedelt wurden, mit Menschen, die in der 500-Meter-Zone wohnten und mit Menschen die schon seit ihrer Geburt in der Gegend um den Rennsteig leben.  Manche von ihnen haben sich immer wieder vergewissert, dass es sich um einen fiktiven Roman handelt und sie anonym bleiben werden, andere wollten über ihre Erlebnisse überhaupt nicht sprechen und wieder andere waren froh, es erzählen zu dürfen. Ich habe viele Stunden damit zugebracht fremden Menschen zuzuhören, die mir ihre Lebensgeschichten anvertraut haben, und beim Abschied waren es jedes Mal keine Fremden mehr für mich. Ich habe mit einer Frau gesprochen, die von ihrer Deportation als 10jährige berichtet hat. Sie konnte mir noch jedes schreckliche Detail des Morgens, an dem es geschah, berichten. Auf der Rückfahrt von dieser Begegnung musste ich auf der Landstraße anhalten,  weil ich einfach nicht mehr weiterfahren konnte und erst einmal weinen musste. 

 

Ihr Roman wird von zwei starken Frauenfiguren getragen. Welche ihrer Heldinnen ist Ihnen näher? Milla oder Christine?

 

Für Milla empfinde ich mütterliche Gefühle und oft habe ich sie in ihrer Einsamkeit trösten wollen. Und auch ich kenne das, wenn man am liebsten alles wegwerfen möchte, um endlich Ordnung in sein Leben zu bringen. Aber Christine ist mir dennoch näher. Sie ist im selben Jahr wie ich geboren und hat ihre Kindheit in der gleichen Gegend verbracht wie ich. Viele Erinnerungen, die sie in sich trägt, teile ich mit ihr. Ich habe beim Schreiben des historischen Teils Christines Geburt entgegengefiebert, damit ich endlich auf meine eigenen Erinnerungen zurückgreifen konnte. Das Schreiben dieser Kapitel war wie eine Zeitreise in meine Vergangenheit und ich habe plötzlich die gleiche unstillbare Sehnsucht wie Christine gespürt. Auch das Haus meiner Großeltern steht nicht mehr, wenn auch aus einem ganz profanen Grund. Aber wie Christine habe ich es jahrelang vermieden dorthin zu gehen. Es gibt Dinge, die wir nicht zurückholen können, wir können uns nur an sie erinnern. 

 

Der Roman spielt an einem ganz besonderen Ort: dem Thüringer Wald. Welche Rolle spielt der Wald für die beiden Frauen?

 

Für Milla ist es ein verwunschener Ort, an dem sie auf die Jagd nach verlorenen Orten, den Lost Places, geht. Es ist ein Ort, an dem sie ihre eigene Einsamkeit vergessen möchte. Der Wald und das, was sie dort findet, ist für sie eher eine romantische Legende mit morbidem Charme. Für Christine hingegen ist es die reale, gelebte Vergangenheit. Der Thüringer Wald ist ihre Heimat und ihr Zuhause, ein Ort der Erinnerung und der Liebe. Aber beide Frauen finden im Wald etwas, wonach sie lange gesucht haben. Ich denke, genau das macht die Magie des Waldes aus: Er lässt uns erinnern und hilft uns zu vergessen.

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Im Hotel Waldeshöh erleben wir über siebzig Jahre

deutsch-deutsche Geschichte:

von Hunger, Vertreibung, Enteignung, Wiedervereinigung und Versöhnung

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Gebundene Ausgabe

E-Book

416 Seiten

Erschienen bei

HarperCollinsGermany

Hörbuch

Laufzeit 412 Minuten

Audi-CD

erschienen bei Lübbe Audio

Empfehlungen für Sachliteratur zum Thema Zwangsaussiedlungen in der DDR

Roman Grafe: Die Grenze durch Deutschland. Eine Chronik von 1945 bis 1990. Pantheon Verlag 

Ingo Bennewitz, Rainer Potratz: Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze. Ch.Links Verlag

Thüringer Institut für Lehrerfortbildung: Materialien Heft 82. Der totgeschwiegene Terror 

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